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von Ingrid Lausund
Das Glück liegt gleich neben dem Joghurtregal, die Räucherstäbchen
bei den Menopausen, die Hysterie vielleicht bei den Tomaten. Was auch immer der Kunde
einkauft in „Hysterikon“ (2001), es wird abgebucht von seiner persönlichen
life card, dem Lebenszeitkonto. Verpasste Chancen, die große Liebe, Lebenslügen,
sie alle werden im Supermarkt des Lebens in Rechnung gestellt. Denn Shopping gehört
längst in unseren Daseinsplan wie Kultur, Religion, Reisen oder Sport.
So assoziiert man beim Titel „Hysterikon“ nicht ganz falsch Bocaccios
Novellensammlung „Dekameron“ und irgendwie auch „Satyricon“,
den von Fellini verfilmten satirischen Roman aus dem Jahr 60 n.Chr.: ein bunter Bilderbogen
aus dem satten Konsumentenleben, bei dem skurrile Antihelden, Tagträumer und Suchende
mit vollen Einkaufswägen und leeren Herzen aufeinandertreffen. Was die Dinge kosten,
weiß man. Was sie wert sind, merkt man oft erst, wenn sie nicht mehr da sind,
heißt es im Stück. Das gibt keinen Trost und keine Antworten, macht aber
auf kabarettistische Art nachdenklich.
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Sinn des Lebens an der Supermarktkasse
Mit einer beschwingten Darbietung zeitgenössischen Theaters hat das Theater in Gröbenzell (TiG) das Premierenpublikum begeistert. Das Stück „Hysterikon“ von Ingrid Lausund spielt in einem Supermarkt.
Gröbenzell - Auf der Bühne des ausverkauften Saals im Bürgerhaus steht eine Verkäuferin in weißem Kittel an der Kasse. Als Waren gibt es neben Lebensmitteln, Kosmetika und Zeitungen auch anderen Bedarf fürs tägliche Leben, als da wären: Flirts, Liebe, Sex, Ideale und Lebenssinn. Der Preis dafür wird abgebucht von der „Identity Card“ oder der „Master Depression“.
Und für manche Kunden gibt es ein Scheiß-Beutelchen dazu, das legt einem
das Schicksal gratis in den Einkaufswagen des Lebens, Umtausch ausgeschlossen. Ein Mann im
Armani-Anzug (Thomas Höltzel) fragt verstört: „Was mach ich denn jetzt damit?“
und die Kassiererin (Corinna Westphal) antwortet charmant:
„Nicht aufmachen!“
Er hakt nach: „Warum kriege ich das und die anderen nicht?“
„Weil sie es angenommen haben“, erklärt die Kassiererin.
[Es gibt Supermarktkunden verschiedenster Art:] Von arm bis reich, von jung bis alt, von ehrlich bis kriminell und von normal bis verrückt ist alles vertreten. … Da ist der Mörder (Ingo Jergens), der beim Kauf von Eisendraht, Schwefelsäure und Klebeband eine neue Partnerin (Barbara Denk) findet, - ein alter Mann (Achim Eckstein), der erst durch seinen Tod frei wird, - und ein Paar, das einen pragmatischen Blick auf die eigene Partnerschaft hat und zufrieden ist.
Neben Beziehungen und moralischen Werten geht es auch direkt um das Thema Konsum,
um den Preis von Waren und Idealen. Ein Mädchen (Ingrid Prinz) fragt sich, ob es
seinen Joghurt fremd- oder selbstbestimmt aussucht. Die Belehrungsmission einer Öko-Kundin
(Jutta Hatzold) wird von der Kassiererin spöttisch kommentiert:
„Da geht sie hin mit
ihrer Seife, um die Welt zu retten …“
Die Welt eines Jungen (Günther Bülig) bricht zusammen, als er herausfindet, dass die Fleißkärtchen der Lehrerin nicht direkt aus dem Himmel, sondern aus dem Supermarkt stammen. Schön, wie die Verzweiflung in Büligs Gesicht sich in Häme verkehrt, als der Junge sich das neu entdeckte kapitalistische Prinzip zu Nutze macht und eine Inflation auf dem Fleißkärtchenmarkt in seiner Klasse herbeiführt.
Das Konzept, mit Laiendarstellern ein zeitgenössisches Stück aufzuführen, geht im TiG wunderbar auf. Regisseur Thomas Eggart setzt Ingrid Lausunds unterhaltsam vor sich hinplätscherndes Stück geschickt in Szene. Das Bühnenbild ist passend minimalistisch in schwarz, weiß und rot gehalten, inklusive Supermarktrequisiten. Vor diesem ruhigen Hintergrund geben die Darsteller alles, etwa bei skurrilem Figurentanz und wirkungsvollem Sex in der Tiefkühltruhe.
Miriam Ossa, Fürstenfeldbrucker Tagblatt, 8. März 2012